Wo Science-Fiction recht hatte und wo nicht

Chinas Schweine und die Welt von morgen

Von Christian Stöcker

In China entsteht gerade die Welt, die sich Science-Fiction-Propheten in den Achtzigerjahren ausgedacht haben. Es zeigt sich: In einem wesentlichen Punkt lagen die Autoren von damals falsch.

05.01.2020

Pestizid-Drohnen in China: Die Welt ist auf eine Diktatur mit globalem Führungsanspruch, die wissenschaftlich und technisch Spitze ist, nur sehr unzureichend vorbereitet
Visual China Group/ Getty Images

In China hat der Betreiber einer großen Schweinefarm gerade Ärger mit der Luftfahrtbehörde. Die Farm hatte einen GPS-Jammer eingesetzt, ein Gerät also, das Lokalisierungssignale stört. Das war Piloten aufgefallen, die die Region überflogen.

Eigentlich war das Ziel der Schweinefarmer, Drohnen fernzuhalten. Mit deren Hilfe werfen Kriminelle in China angeblich mit Schweinepest verseuchte Fleischstücke auf das Gelände von Schweinefarmen ab. Wenn die Krankheit dann ausbricht, kaufen die Täter die zwangsweise notgeschlachteten Tierbestände billig auf - um sie anschließend umzudeklarieren und das Fleisch teuer weiterzuverkaufen.

China ist der weltgrößte Markt für Schweinefleisch, und dort wütet die Schweinepest derzeit heftig. Die Schweinefleischproduktion ist laut dem dortigen Landwirtschaftsministerium um 40 Prozent zurückgegangen. Das macht die organisierte Kriminalität offenbar erfinderisch.

Ist das wirklich wie Cyberpunk?

Als ein CNN-Journalist einen Artikel über den Vorgang auf Twitter teilte, erzielte er damit eine bemerkenswerte Resonanz - und haufenweise Kommentare, die auf Science-Fiction-Autoren wie Neal Stephenson ("Snow Crash") oder William Gibson ("Neuromancer") verwiesen.

Tatsächlich könne man das Gefühl haben, dass in China gerade die Welt entsteht, die in den seit Mitte der Achtzigerjahre erschienenen Cyberpunk-Romanen beschrieben wird.

Die Cyberpunk-Autoren porträtieren allerdings fast sämtlich eine düstere, turboliberale Fortschreibung der marktwirtschaftlichen Demokratien des Westens: Konzerne üben darin ungezügelte Macht aus, befreit von den Fesseln staatlicher Kontrolle.

Turbokapitalismus mit allmächtiger Staatsmacht

China ist zwar gerade dabei, sich in eine Hightech-Dystopie zu verwandeln - aber eine mit ganz anderen politischen Vorzeichen. Zwar existiert auch dort ein ungezügelt wirkender Turbokapitalismus, der sich um Arbeitnehmerrechte, die Umwelt, Verbraucherschutz oder gar Privatsphäre wenig bis gar nicht schert. Über diesem Turbokapitalismus aber steht weiterhin eine nahezu allmächtige Staatsmacht, die ihren eigenen Konzernen jederzeit die Bedingungen diktieren kann. Die bei Bedarf ganze Bevölkerungsgruppen in Umerziehungslager sperrt. Und zur Unterdrückung mit Begeisterung Hightech-Werkzeug einsetzt.

Der durchdigitalisierte chinesische Überwachungsstaat mit seinem Social Credit Score, Videoüberwachung und öffentlichen Digitalprangern für Leute, die bei Rot über die Ampel gehen, wird zwar angetrieben von Kapital und Konsum. Kontrolliert aber wird er von der kommunistischen Partei. Da lagen die Science-Fiction-Propheten falsch.

Deutsche Teenager und die chinesische App

Es ist in den vergangenen Jahren viel geschrieben worden über Chinas Boom, über das rasante Wirtschaftswachstum, die atemberaubend schnell voranschreitende Digitalisierung, den unbedingten Aufstiegswillen der chinesischen Mittelschicht. In vielen Köpfen aber sitzt immer noch die Vorstellung fest, dass China irgendwie rückständig sei, dass Innovationen aus dem Westen kommen und aus dem Osten nur Klone. Das stimmt schon längst nicht mehr.

Im Digitalen kann man das zum Beispiel daran sehen, dass Facebook-Gründer Mark Zuckerberg sich in seinen Plänen für sein eigenes Hauptprodukt mittlerweile offen an der Funktionalität der chinesischen Schweizer-Messer-App Wechat orientiert. Instagram hat kürzlich eine Erweiterung namens Reels vorgestellt - einen Klon der chinesischen Videoschnipsel-App Tiktok. Die wurde weltweit bis jetzt 1,3 oder sogar 1,5 Milliarden Mal heruntergeladen - dabei ist Tiktok im Westen erst seit 2018 verfügbar.

Wer, auch im Westen, mit Teenagern zu tun hat, kennt Tiktok längst. Das Herzstück der App ist eine Technologie, die man bis vor Kurzem ebenfalls für eine Domäne von Google, Facebook, Amazon und Microsoft hielt: maschinelles Lernen. Social-Media-Innovationen kommen jetzt aus China, nicht mehr aus dem Silicon Valley.

Westliche Firmen werden betteln

Im Bereich künstliche Intelligenz wird China in den kommenden Jahren weiterhin atemberaubende Sprünge machen, nicht zuletzt, weil es dank des dort nichtexistenten Datenschutzes einen der wichtigsten Rohstoffe für maschinelles Lernen im Überfluss gibt: Daten. Da in China mittlerweile nahezu jede Transaktion, von der Taxibestellung bis zum Kauf einer Zahnbürste, mit dem Smartphone organisiert und bezahlt wird, liegt dort zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus eine vollständige digitale Dokumentation nicht nur der Bewegungen aller Bürger, sondern auch ihres gesamten Konsumverhaltens vor. Auch die wichtigsten Unternehmen für Gesichtserkennungstechnologie kommen aus China.

Westliche Firmen werden in den nächsten Jahren betteln, auf die mit maschinellem Lernen aus diesem Datenschatz gewonnenen Erkenntnisse zugreifen zu dürfen. Wie souverän westliche Konzerne gegenüber Chinas Staatsführung auftreten, ist schon jetzt jedes Mal zu bewundern, wenn es mal wieder wegen eines Taiwan-T-Shirts oder eines Dalai-Lama-Zitats Ärger gibt.

Doppelt so produktiv wie Harvard

Weniger stark diskutiert wird im Westen bislang eine Entwicklung, die nicht minder rasant voranschreitet: Chinesische Institutionen sind mittlerweile auch in naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen in der globalen Spitzengruppe angekommen. Vor einigen Wochen veröffentlichte "Nature" seinen Jahresindex für qualitativ hochwertige Publikationen im Bereich Chemie. Auf Platz eins lag dort im Ranking für das Jahr 2018 zum ersten Mal China, die USA rutschten ab auf Platz zwei.

Die Chinesische Akademie der Wissenschaften (CAS), eine der Elite-Forschungseinrichtungen des Landes mit etwa 60.000 Forschern, ist "Nature" zufolge die derzeit, was hochwertige Publikationen angeht, bei Weitem erfolgreichste Forschungseinrichtung der Welt. 2018 veröffentlichten CAS-Forscher über 4800 Fachartikel - weniger als halb so viele kamen aus Harvard, der zweitplatzierten Institution. Unter den Top Ten findet sich, neben US-amerikanischen und europäischen Einrichtungen wie dem französischen CNRS, Stanford, Cambridge oder den deutschen Max-Planck-Instituten noch eine weitere chinesische Einrichtung: die Peking University. Auf Platz 13, 16 und 18 liegen weitere chinesische Hochschulen. Chinas Forscher publizieren über Frühmenschen und Klimaforschung, über Biotechnologie und Astrophysik, über Nanotechnologie und Materialwissenschaft. In diesen und vielen anderen Bereichen gehören sie längst zur Weltspitze. Oft kooperieren sie mit Forschern aus dem Westen.

Weil China und die Sowjetunion im 20. Jahrhundert weitgehend abgeschottet waren und in Sachen Wissenschaft und Technologie oft hinterherhinkten, hat man sich im Westen den bequemen Irrglauben zugelegt, dass Demokratie und Freiheit automatisch auch mehr Spitzenforschung und technischen Fortschritt bringen. Das erweist sich jetzt als Trugschluss.

Die Welt ist auf eine Diktatur mit globalem Führungsanspruch, die wissenschaftlich und technisch Spitze ist, nur sehr unzureichend vorbereitet.


Ein Kommentar aus spiegel online